Frank Plümer: Liebe Imme, wir kennen uns seit mittlerweile über 30 Jahren und haben in verschiedenen Kontexten zusammengearbeitet. Seitdem sind wir immer im Austausch geblieben über die Frage, wie Führungskräfte auftreten und kommunizieren müssen, um erfolgreich zu sein. In all den Jahren hast Du viele Menschen in hohen Positionen begleitet. Was fasziniert dich eigentlich immer noch an deinem Beruf?
Imme Vogelsang: Es ist die Möglichkeit, Menschen zu helfen, ihr volles Potenzial zu entfalten – beruflich wie privat. Zu sehen, wie jemand durch ein paar gezielte Veränderungen plötzlich ganz anders wahrgenommen wird, das ist für mich unglaublich spannend. Jeder Mensch hat eine eigene Wirkung, und es ist toll, diese gezielt zu stärken.
Als ich Mitte der Neunziger meinen ersten Arbeitsvertrag in der Tasche hatte, musste ich mich erstmal mit ein paar Anzügen inklusive einer ordentlichen Auswahl von Krawatten ausstatten. Heute haben sich die Kleidungsgewohnheiten deutlich gelockert, selbst in konservativen Branchen fällst Du mit Dreiteiler, Krawatte und Einstecktuch schnell aus dem Rahmen. Hat sich das gesellschaftliche Empfinden für solche Kleiderregeln verändert?
Ja, das hat sich definitiv verändert. Die Gesellschaft durchläuft modische Wellen, und was früher als Standard galt, wird heute oft lockerer gehandhabt. Die Nachkriegszeit war geprägt von formeller Kleidung, in den 70er Jahren hatten wir Flower-Power und Hippie-Look, nach dem Platzen der Dotcom-Blase wurde es wieder formeller und jetzt ist es gerade mal wieder sehr locker geworden. Heute sieht man sogar Vorstände in Hoodies – ein Trend, der durch die Pandemie noch verstärkt wurde.
Glaubst Du, formelle Kleidung wird die Gesellschaft bald wieder stärker prägen?
Das Pendel schwingt bereits wieder zurück. Auf den Laufstegen sieht man ja schon wieder strengere Outfits, mit Doppelreihern, Schulterpolstern und sogar Krawatten für Frauen. Die Unternehmen sind aber vorsichtig mit strikten Kleiderordnungen, weil sie nicht riskieren wollen, junge Talente abzuschrecken. Trotzdem denke ich, dass formellere Kleidung in ein paar Jahren wieder an Bedeutung gewinnen wird.
Aber bringt nicht jeder Trend auch wieder eine neue Gleichförmigkeit mit sich?
Ja, das passiert tatsächlich oft. Auch die, die sich für besonders individuell halten, folgen meist bestimmten Trends – wie der Kombination von Anzug und weißen Sneakers. Wir neigen dazu, uns nach der Mode zu richten, selbst wenn wir glauben, unabhängig zu sein. Die Gruppendynamik in der Mode ist einfach sehr stark.
Wie wichtig sind Farben in der Kleidung für Dich?
Farben haben nach wie vor eine große Bedeutung. Dunkelblau ist im Geschäftsleben immer noch die dominierende Farbe, weil sie Vertrauen ausstrahlt und weltweit als seriös gilt. Während Männer überwiegend bei gedeckten Farben bleiben, haben Frauen heute viel mehr Freiheiten und tragen mutigere Farben wie Kirschrot, Royalblau oder Petrol. Das war vor ein paar Jahren zumindest in Deutschland noch undenkbar, zeigt aber, wie sich modische Normen ändern.
Was sind Deiner Meinung nach die größten modischen Fehler?
Das kommt stark auf die Situation an. Es ist genauso unpassend, in einem Startup im klassischen Anzug aufzutauchen, wie in einer konservativen Anwaltskanzlei in zerrissener Jeans und T-Shirt. Der Ton ist zwar lockerer geworden, aber es bleibt wichtig, sich dem Umfeld entsprechend zu kleiden. Ein Gespür für den richtigen Kleidungsstil ist einfach unerlässlich.
Eine Frage, die in unseren Kommunikationstrainings immer wieder auftritt, sind die „Dos“ und „Dont’s“ bezüglich der Kleidung weiblicher Führungskräfte. Frauen haben ja grundsätzlich mittels Kleidung und Accessoires sehr viel mehr Möglichkeiten, über ihr Äußeres zu kommunizieren.
Man kann keine generellen Dos and Donts definieren. Es kommt immer auf die Rolle an, in der jemand unterwegs ist, auf die jeweilige Zielgruppe, den Kontext und vor allem auf die eigenen Wirkungsziele in diesem speziellen Setting. Und das kann immer unterschiedlich sein. Wenn ich an einem bestimmten Tag durchsetzungsstark wirken möchte, ist ein „Do“, eine klare, starke Farbe zu wählen, die Selbstbewusstsein und Kompetenz ausstrahlt – etwa Dunkelblau oder kräftiges Rot.
Ein „Don’t“ wäre es in der Situation, zu verspielt oder zu leger aufzutreten, da dies schnell unprofessionell wirken kann. Wenn ich aber in einem Zielerreichungsgespräch mit einem schüchternen Mitarbeitenden Harmonie und Geborgenheit vermitteln möchte, oder als Psychotherapeut arbeite, sind klare, kalte Farben kontraproduktiv – und damit ein Dont.
Die Länge der Kleidung spielt bei weiblichen Führungskräften immer noch eine Rolle. Röcke oder Kleider sollten bestenfalls knieumspielend sein – das wirkt professionell und seriös. Studien belegen, je mehr nackte Haut wir zeigen, desto erotischer werden wir wahrgenommen. Ein sehr tiefer Ausschnitt, freie Schultern oder ein nackter Bauch werden sehr schnell mit fachlicher Inkompetenz gleichgesetzt. Also weiblich und attraktiv ja gern! Aber nicht erotisch im Job.
Ein anderes Thema: Wie sollte man als Führungskraft mit sichtbaren Tattoos und Körperschmuck im Business-Kontext umgehen? Darf man grundsätzlich zeigen, was man hat?
Sichtbare Tattoos und Körperschmuck sind heute weit verbreitet und werden zunehmend akzeptiert, auch im Business-Kontext. Dennoch sollten Führungskräfte bedenken, dass ihr Auftreten oft ein Statement setzt. In konservativen Branchen oder bei wichtigen Geschäftsterminen empfiehlt es sich, sichtbare Tattoos und auffälligen Schmuck eher dezent zu halten oder abzudecken. So vermeidest du Missverständnisse und stellst sicher, dass der Fokus auf deiner Kompetenz und nicht auf deinem Körperschmuck liegt. Es kommt also auf die Branche, die Unternehmenskultur und die jeweilige Situation an.
Lass uns über etwas auf den ersten Blick sehr Altmodisches sprechen: über Benimmregeln. Gibt es die heute überhaupt noch?
Die Etikette hat sich gelockert, aber respektvolles Verhalten bleibt entscheidend. Interessanterweise haben jüngere Generationen ähnliche Vorstellungen von Respekt wie ältere. Sie erwarten Höflichkeit, Gleichberechtigung und wollen auf Augenhöhe behandelt werden. Auch Pünktlichkeit spielt nach wie vor eine Rolle, auch wenn sie insbesondere von jungen Menschen nicht mehr sehr streng eingehalten wird.
Unsere Körpersprache wirkt viel schneller als Gesprächs- oder Vortragsinhalte. Was verrät unsere Körpersprache über uns?
Körpersprache ist komplex. Einzelne Gesten dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Ein einfaches Armeverschränken kann viele Bedeutungen haben und ist nicht immer ein Zeichen von Abschottung. Es kommt auf die gesamte Körpersprache an: Was nehmen wir parallel wahr, wie ist die Kopfhaltung, was machen die Schultern, wie ist die Mimik. Unser Körper kommuniziert immer, und diesen Signalen messen wir schon seit der Steinzeit, als es noch gar keine verbale Sprache gab, unbewusst eine viel höhere Bedeutung bei, als dem gesprochenen Wort.
Haben wir Deiner Meinung nach die Fähigkeit verloren, Körpersprache richtig zu „lesen“?
Durch den verstärkten Einsatz digitaler Medien sind wir tatsächlich schlechter darin geworden, nonverbale Signale zu erkennen. Wir schauen unseren Gesprächspartnern kaum noch ins Gesicht und übersehen dadurch wichtige emotionale Hinweise. Diese Fähigkeit, die wir als Kinder noch meisterhaft beherrschen, geht uns verloren, je mehr lernen zu sprechen und uns auf Inhalte zu konzentrieren. Hinzu kommt inzwischen die permanente Nutzung digitaler Medien und die stundenlange Fokussierung auf Bildschirme jeder Art. Es ist wichtig, wieder bewusster hinzusehen und die Emotionen seiner Gesprächspartner wahrzunehmen.
Beeinflusst der erste Eindruck wirklich so stark, wie man sagt?
Ja, absolut, und das passiert sogar blitzschnell. Innerhalb von 100 Millisekunden entscheiden wir unbewusst, ob uns jemand sympathisch ist oder nicht. Diese Entscheidung basiert auf uralten Überlebensmechanismen, die tief in unserem Unbewussten verankert sind. Wir beurteilen andere sofort nach Freund oder Feind, Hierarchie und Sympathie.
Du bezeichnest Dich als Trainerin für Wirkungskompetenz und Empathie. Meinst Du, es mangelt uns heute insgesamt an Empathie?
Leider ja, das ist ein großes Problem. Wir alle kommen mit der Fähigkeit zur Empathie auf die Welt, verlieren sie aber im Laufe unseres Lebens teilweise, weil wir uns mehr auf Worte als auf nonverbale Signale konzentrieren. Eine zunehmende Ich-Bezogenheit und der Mangel an sozialen Interaktionen verstärken dieses Problem. Es ist daher essenziell, wieder bewusster auf die Emotionen unserer Mitmenschen zu achten und diese wahrzunehmen.
Früher hast Du Dich als Etikettetrainerin bezeichnet, heute ist das für Dich nicht mehr der richtige Begriff. Was müssen wir uns unter „Wirkungskompetenz“ vorstellen?
Wirkungskompetenz ist die Fähigkeit, nonverbale Wirkungsinstrumente (wie etwa Körpersprache und Kleidung) so zu nutzen, dass damit gezielt ein bestimmtes Image (Fremdbild) bei anderen Personen erzeugt wird. Wirkungskompetenz geht also weit über reine Etikette hinaus. Es geht darum, die eigene Wirkung auf andere gezielt zu steuern. Dabei spielen nicht nur Kleidung und Benehmen eine Rolle, sondern auch Körpersprache, Stimme und die Art, wie wir miteinander kommunizieren. Es geht darum, in jeder Situation stimmig und überzeugend zu wirken, um die gewünschten Reaktionen zu erzielen.
Viele Führungskräfte trainieren einen professionellen Auftritt. Aber beim Dinner abends, mit Kunden oder Ranghöheren, bricht oft die große Unsicherheit aus. Sind Tischmanieren deiner Meinung nach heute weniger wichtig?
Nein, ganz und gar nicht – auch wenn man das denken könnte, wenn man insbesondere junge Menschen essen sieht. Viele haben heute zuhause offenbar grundlegende Tischmanieren nicht mehr gelernt, was in geschäftlichen Kontexten oft zu peinlichen Situationen führen kann. Für Berufseinsteiger und gestandene Führungskräfte, die oft an Geschäftsessen teilnehmen, sind solche Fähigkeiten jedoch nach wie vor wichtig. Es ist ratsam, sich diese Kenntnisse frühzeitig anzueignen, um später sicher auftreten zu können.
Wir erleben ja, wie sich in Zeiten der Umbrüche auch soziale Normen rasant verändern. Meinst Du, dass es wichtiger wird, sich bewusst mit solchen Themen auseinanderzusetzen?
Ja, definitiv. In einer Zeit, in der persönliche Interaktionen immer seltener werden, ist es umso wichtiger, sich bewusst mit sozialen Normen und respektvollem Verhalten zu befassen. Das Erlernen und Anwenden solcher Fähigkeiten erleichtert nicht nur den beruflichen Erfolg, sondern stärkt vor allem zwischenmenschliche Beziehungen. Wir sollten uns wieder mehr darauf konzentrieren, wie wir miteinander umgehen und welche Botschaften wir senden – verbal wie nonverbal.
Liebe Imme, ich danke Dir für das Gespräch!